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Der letzte Fondsmanager Londons – ein post-Brexit-Science-Fiction

Es ist das Jahr 2023, und die Brexit-Verhandlungen sind fürchterlich schief gelaufen. In Folge dessen hat sich Großbritannien zerlegt, es hat ein Exodus von Firmen aus London nach Kontinentaleuropa stattgefunden − und die Shetland-Inseln sind bei der Registrierung neuer Fonds an dritter Stelle hinter Luxemburg und Irland. Eine Kurzgeschichte von Hagen Gerle, Gerle Financial Communications.

Das Foto von einem Familienurlaub in Cornwall, die metallene Auszeichnung von 2020 als “Bester britischer alternativer Asset Manager (über 3 Jahre)“, die letzte Ausgabe eines Laufmagazins – es gab nicht viel an persönlichen Dingen, die Adam an diesem Morgen in seinen Karton packen musste. Die meisten seiner Sachen hatten bereits den Weg in eine der großen Umzugskartons gefunden, die sich an der Wand seiner kleinen Wohnung stapelten, oder er hatte sie schlichtweg weggeschmissen. ‚Reise leicht‘, sagte er sich. ‘Besorg‘ dir, was du brauchst, in Helsinki.‘Helsinki … Adam konnte es immer noch nicht fassen, wie Finnlands Hauptstadt zu dem am meisten angesagten Ort des Kontinents für Asset Manager geworden war. Nicht nur für Investmentgesellschaften aus London, Edinburgh und Glasgow, sondern für alle Fondsmanager, die in Künstlicher Intelligenz (KI) bewandert waren. Der Kampf „aktiv gegen passiv“ war schon vorher recht eindeutig durch die Einführung der neuen Generation von KI-basierten Investment-Algorithmen entschieden worden.

Nachdem die Brexit-Verhandlungen so fürchterlich in die Hose gegangen waren, hatte es sowieso nicht mehr allzu viele britische Asset Manager gegeben, die nach Finnland auswanderten. Im Frühjahr 2018 hatten die meisten britischen und ausländischen Banken, Versicherer und Asset Manager ihre Notfallpläne fertiggestellt, ihre Location scouts waren vor Ort, und die Anträge für einen Umzug nach Europa lagen in der Schublade.

Und trotz eines angeblichen französischen Komplotts, um „britische Unternehmen auszuplündern“, hatten die meisten Banken ihre Zelte in Frankfurt aufgeschlagen, die Versicherer waren überwiegend nach Dublin gegangen, die Private-Equity-Häuser nach Luxemburg und die Fondsgesellschaften nach Helsinki – und natürlich auf die Shetland-Inseln. Frankreich auf der anderen Seite, das London gerade erst die European Banking Authority (EBA) abgeluchst hatte, war über dieses Ergebnis alles andere als amüsiert.

Verdammte Ölplattformen-kleine-Ponys-öliger-Fisch-Shetlands! Adam musste laut lachen, als er darüber nachdachte. Naja, es war sowieso keiner mehr außer ihm im Büro, die Schreibtische waren alle abgeräumt, und die ganze Hardware bereits in Kisten verstaut, die später noch von einem privaten Kurier abgeholt werden sollten. Zu Adams großer Erleichterung war die italienische Kaffeemaschine noch nicht eingepackt und funktionierte. Er würde sie sehr vermissen. Aber waren die Finnen nicht auch tüchtige Kaffeetrinker?

Die Shetland-Inseln, erinnerte sich Adam, während er seine letzte Tasse Kaffee im alten Büro zubereitete, hatten es bei diesem ganzen Durcheinander über einen harten Brexit geschafft, als Gewinner herauszukommen und sich als internationale Steueroase zu etablieren. So eine Art „Cayman-Inseln der Nordsee“. Zuerst hatten Schottland, Nordirland und Wales den Stecker gezogen und sich als unabhängig erklärt, nachdem die Brexit-Gespräche richtig eklig geworden waren und es offensichtlich wurde, dass der frühere Premierminister Boris Johnson nicht den geringsten Schimmer hatte, in welche Richtung die ganze Angelegenheit steuerte. Vom Vereinigten Königreich zu ‚Little Britain’ in einem Tag sozusagen.

Dann – während Schottland hektisch daran gearbeitet hatte, der Europäischen Union wieder beizutreten, hatten sie glatt die Shetlands vergessen. Die lokale Regierung der Inseln war darüber nicht sonderlich glücklich und erklärte ihrerseits die Unabhängigkeit von Schottland, führte den New Bitcoin als Währung ein und eine Unternehmenssteuer von nur 5%. Sie startete außerdem eine massive Marketing-Kampagne, um die Bosse der Investmentfirmen davon zu überzeugen, die Management-Teams ihrer Unternehmen auf den kleinen Inseln anzusiedeln. Nordlicht-Touren und Ponyreiten für die Kinder der Geschäftsführer inklusive. ‚Die haben ihre Hausaufgaben gemacht‘, dachte Adam, während er seinen Espresso schlürfte.

Der gründliche, entschieden umgesetzte Plan hatte funktioniert: Im vergangenen Jahr lagen die Shetlands auf dem dritten Platz in der Fondsregistrierung hinter Luxemburg und Irland. Milliarden und Milliarden Euro an verwalteten Geldern! Obwohl Adam die Shetland-Inseln ein paar Mal geschäftlich besucht hatte, war er doch froh darüber, dass er nicht auf die Inseln in der Nordsee, sondern nach Finnland umzog. Auch wenn er zugeben musste, dass die Anreise auf die Shetlands einen gewissen Charme hatte: Dreimal am Tag verkehrten Luftkissenboote und Wasserflugzeuge zwischen Aberdeen und Lerwick. Die U-Bahn in London hingegen musste wegen Stromausfällen regelmäßig ihren Betrieb einstellen, weswegen die Menschen dann auf den Schienen entlangliefen.

London? Hier gab es keine Zukunft mehr für ihn. Die City war innerhalb eines Jahres kollabiert, nachdem im Frühjahr 2019 nicht nur ein paar Unternehmen, die von der Finanzindustrie abhingen, nach Europa umgezogen waren, sondern im Großen und Ganzen alle. Und als die Firmen nach und nach die einstmals markanten Hochhäuser an der Themse verließen, machten sich die Londoner auf den Weg – viele von ihnen zogen in die leerstehenden ehemaligen Bürogebäude ein. Sie wurden bekräftigt von einem neuen Gesetz der Labour-Regierung, dem sogenannten „Gherkin Housing Act’. Adams Schwester Claire war eine von ihnen (er musste unbedingt daran denken, ihr später die ausgezeichnete Bürokaffeemaschine in ihre Wohnung im 28. Stock von The Shard zu bringen).

Das Geld, das benötigt wurde, um die Eigentümer dieser Bürogebäude zumindest teilweise zu entschädigen (überwiegend selbst große Immobilienfondsmanager und ausländische, Milliarden schwere Oligarchen) hatte sich die Regierung von den Konten von EU-Ausländern geholt, die noch in Großbritannien lebten. In dem ganzen Chaos rund um die Brexit-Verhandlungen hatte die Regierung nämlich kurzerhand beschlossen, die Bankkonten aller Halter von EU-Pässen einzufrieren, welche sie seit 2017 identifiziert hatte. Sie versprach zwar, das Geld innerhalb eines Jahres zurückzuzahlen, sobald die „besondere Beziehung zu den EU“ etabliert worden sei.

Aber irgendwie hatte diese besondere Beziehung nie das Licht der Welt erblickt, und das Geld (das aus rechtlicher Sicht schlichtweg gestohlen worden war) erreichte niemals seine ursprünglichen Besitzer. Tausende polnischer, französischer und deutscher Familien flohen mittellos aus dem Königreich, weil ihre Konten eingefroren waren. Sie wandten sich an die EU-Hochkommission, die ihnen helfen sollte, die englische Regierung wegen unrechtmäßiger Konfiszierung zu verknacken.

Adam wischte seinen Schreibtisch mit einer Serviette von Costa ab. Die Kaffeekette hatte ihre vorletzte Filiale in der City vor zwei Wochen geschlossen, während draußen Hunderte von wütenden Kunden vor den verschlossenen Türen mit ihren Kaffee-Rabattkarten wedelten. Adam wusste, dass es in Helsinki genügend Cafés gab und sie zudem das schnellste kabellose Internet auf dem Planeten hatten.

Dank der enormen Menge Energie, die Finnland inzwischen aus dem Strom generierte, welche aus Wasserkraftwerken, Windparks vor der Küste und der Restwärme privater Saunas gewonnen wurde, konnte das Land ohne Probleme die größten Anforderungen an Energie und Internet-Bandbreite für Unternehmen stemmen. Darin eingenommen waren auch all die stromintensiven Betriebe und Währungshändler, die neue Digitalwährungen wie den New Bitcoin schürften, der im Umkehrschluss Helsinki zu Europas neuester Geldhauptstadt gemacht hatte.

Adam würde auf jeden Fall bald herausfinden, wie gut es sich unter den Finnen leben ließ. Seine Frau Michelle und die Kinder waren schon da, genossen erstklassige Unterkunft, Grundschulerziehung und einen 30-Stunden/Woche-Vertrag (natürlich völlig flexible Zeiten) für Michelle in einer biologischen Forschungseinrichtung.

Gut, Zeit zu gehen. Adam zog seine Jacke an, schnappte seinen Karton mit einer Hand und die Büroschlüssel mit der anderen. Er schaltete das Licht aus, zog die Tür hinter sich und schloss ab, ohne sich noch einmal umzusehen. ‚Das reicht noch, um mir einen Kaffee in diesem letzten Costa-Laden zu holen‘, dachte er und lief die Stufen hinunter.